Das Milgram-Experiment

Gefährliche Gehorsamkeit - 450 Volt gegen unser Wertesystem

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Das Milgram-Experiment

Im Jahr 1961 führte der Psychologe Stanley Milgram ein Experiment durch. Das Ziel des Experiments war es, herauszufinden, wie hoch die Bereitschaft durchschnittlicher Menschen ist, die Befehle einer autoritären Person auch dann auszuführen, wenn sie den eigenen Wert- und Moralvorstellungen widersprechen.

Charaktere des Experiments

In dem Experiment gab es drei Charaktere:

  • Einen offiziellen Versuchsleiter
  • Schüler und
  • Lehrer

Nur bei den Lehrern handelte es sich um „echte“ Teilnehmer des Versuchs. Sowohl der Versuchsleiter als auch die Schüler waren Schauspieler. Dies blieb den Probanden – den Lehrern – jedoch verborgen. Sie gingen davon aus, dass auch die Schüler Probanden sein würden.

Vorbereitung des Experiments

Den Probanden wurde mitgeteilt, dass es bei dem Experiment um die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Lernerfolg und Bestrafung ginge.

Durch eine manipulierte Losziehung bestimmte der Versuchsleiter einen Schauspieler zum Schüler und die tatsächliche Versuchsperson zum Lehrer.

Den Versuchsaufbau, bei dem alle Teilnehmer außer die Probanden eingeweiht sind, übernahm Milgram von Experimenten des Psychologen Salomon Ash, der unter Anderem das Konformitätsexperiment durchgeführt hat.

Der Lehrer (der Proband) wurde vor dem Beginn des Experiments darüber informiert, dass er dem Schüler auf Anweisung des Versuchsleiters für jede falsche Antwort einen Stromschlag versetzen sollte. Dabei sollte die Intensität des Stromschlags mit jeder falschen Antwort erhöht werden.

Um die Versuchsperson dafür zu sensibilisieren, wie sich ein Stromschlag anfühlt, wurde ihr ein solcher mit 45 Volt verabreicht. Außerdem wurde der Versuchsperson der Stuhl gezeigt, auf dem der Schüler während des Versuchs getestet werden würde. Der Anblick des Stuhls erinnerte gewollt an einen elektrischen Stuhl, der auch heute noch für Hinrichtungen in den USA verwendet wird (zuletzt am 20.02.2020 (Quelle: Wikipedia)).

Im Anschluss wurde der Versuchsperson das beeindruckende, extra für dieses Experiment hergestellte Pult gezeigt, an dem sie während des Versuchs sitzen würde. Es befand sich (in der Grundversion des Experiments) in einem anderen Raum. Das Pult war mit Kabeln an den Stuhl des Schülers angeschlossen und hatte 30 Einstellschalter und 30 Kontrollleuchten. Auf dem Gerät war neben einer Phantasie-Typbezeichnung auch der Spannungsbereich angegeben: „Output 15 Volts-450 Volts“. Fast die Hälfte aller Einstellschalter befand sich in einem mit roter Schrift markierten Bereich. Die letzten beiden Schalter waren gar mit der Beschriftung „XX“ gekennzeichnet. Zusätzlich gab es einen Bereich für die Anzeige der aktuell eingestellten Volt-Zahl.

Schematische Abbildung des Lehrerpults zur Übermittlung der Stromschläge

Bei dem Pult handelte es sich um eine Attrappe, was den Versuchspersonen jedoch nicht bekannt war. Die Probanden mussten davon ausgehen, dass sie den „Schülern“ im Versuch reale Stromschläge verabreichten.

Ablauf des Experiments

Der Kern des Experiments war es, dass der Lehrer (der Proband) den Schüler (Schauspieler) zur Zusammensetzung von Wortpaaren befragen sollte. Dabei sollte er die Anweisungen des Versuchsleiters (Schauspieler) befolgen. Auf Befehl des Versuchsleiters sollte der Lehrer dem Schüler für jede falsche Antwort einen elektrischen Schlag versetzen, der sich mit jedem Fehler um 15 Volt erhöhen sollte. Dabei handelte es sich nicht um echte Stromschläge, was dem Lehrer jedoch verborgen blieb. Der Schüler befand sich in der ersten Variante des Experiments in einem Nebenraum. Der Lehrer konnte den Schüler daher nicht sehen, sondern ausschließlich über Lautsprecher hören. Der Schüler (Schauspieler) reagierte auf die Stromschläge nach einem fest definierten Schema:

  • Ab 75 Volt reagierte der Schüler mit einem Grunzen / Stöhnen
  • Ab 120 Volt reagierte der Schüler bereits mit Schmerzensschreien
  • Bei 150 Volt sagt der Schüler, dass er nicht mehr an dem Experiment teilnehmen will, weil die Schmerzen zu stark sind
  • Ab 200 Volt reagiert der Schüler mit Schreien, die unerträgliche Schmerzen suggerieren
  • Ab 300 Volt antwortet der Schüler nicht mehr auf Fragen
  • Ab 330 Volt reagiert der Schüler gar nicht mehr

Auch der Versuchsleiter (Schauspieler), der sich in der Grundversion des Experiments mit dem Lehrer (dem Probanden) in einem Raum befand, reagierte nach einem zuvor festgelegten Schema:

Immer dann, wenn der Lehrer (Proband) Zweifel äußerte oder das Experiment abbrechen wollte, reagierte der Versuchsleiter mit einem der folgenden Sätze:

  • Beim 1. Mal: „Bitte, fahren Sie fort!“ oder „Bitte machen Sie weiter!
  • Beim 2. Mal:  „Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!
  • Beim 3. Mal: „Es ist absolut notwendig, dass Sie weitermachen!
  • Beim 4. Mal: „Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!
  • Beim 5. Mal: Abbruch des Experiments

Es gab noch weitere vordefinierte Reaktionen des Versuchsleiters:

  • Forderte der Schüler (Schauspieler) ab 150 Volt, von seinem Stuhl befreit zu werden, forderte der Versuchsleiter die Weiterführung des Experiments zum Nutzen der Wissenschaft
  • Auf die Frage des Probanden, ob der Schüler anhaltende Schäden davon tragen könnte, antwortet der Versuchsleiter: „Auch wenn die Schocks schmerzvoll sein mögen, das Gewebe wird keinen dauerhaften Schaden davontragen, also machen Sie bitte weiter!
  • Auf die Aussage des Probanden, dass der Schüler das Experiment abbrechen möchte, antwortet der Versuchsleiter: „Ob es dem Schüler gefällt oder nicht, Sie müssen weitermachen, bis er alle Wörterpaare korrekt gelernt hat. Also bitte machen Sie weiter!
  • Auf die Frage des Probanden, wer dafür die Verantwortung trägt, wird dem Probanden vom Versuchsleiter versichert, dass dieser die volle Verantwortung für alles übernimmt, was passiert

Varianten des Experiments

Weil die Ergebnisse des Basis-Experiments so überraschend waren, wurde das Experiment in der Folge in vielen abgewandelten Formen durchgeführt. Beispielsweise wurde die Nähe zwischen Lehrer und Schüler verändert. Dabei gab es folgende Abstufungen:

  • Fernraum: Die Schüler befinden sich in einem Nebenraum und können von den Lehrern (Probanden) weder gesehen noch gehört werden. Nur ein Schlag an die Wand ist beim Erreichen der 300 Volt-Marke zu hören
  • Akustische Rückmeldung: Die Schüler befinden sich in einem Nebenraum und können von den Lehrern nicht gesehen, aber über einen Lautsprecher gehört werden
  • Raumnähe: Die Schüler befinden sich mit den Lehrern und den Versuchsleitern in einem Raum
  • Berührungsnähe: Der Lehrer muss mit einem Handschuh geschützt die Hand des Schülers auf eine Metallplatte legen, um den Stromschlag zu übermitteln

Ergebnisse des Experiments

Dies sind die überraschenden und zugleich erschreckenden Ergebnisse des Experiments unter Berücksichtigung der Nähe zwischen Schüler und Lehrer:

  • Fernraum: 65 Prozent aller Probanden gingen bis zum Maximum von 450 Volt
  • Akustische Rückmeldung: 62,5 Prozent aller Probanden gingen bis zum Maximum von 450 Volt
  • Raumnähe: 40 Prozent aller Probanden gingen bis zum Maximum von 450 Volt
  • Berührungsnähe: 30 Prozent aller Probanden gingen bis zum Maximum von 450 Volt

Fazit

Die Bereitschaft, auf Anordnung gegen die eigenen Wert- und Moralvorstellungen zu handeln, ist bei den meisten Menschen hoch,

  • wenn sie selbst Autorität besitzen (Lehrer)
  • wenn die Befehle von einer Autorität kommen (Versuchsleiter)
  • umso größer der Abstand zum Geschädigten (Schüler) ist
  • wenn man sich einreden kann, dass jemand Anderes (Versuchsleiter) die Verantwortung für unsere Taten trägt

So ist es nicht verwunderlich, dass es Soldaten leichter fällt, auf Anweisung einen Drohnenangriff zu starten, als einen Feind im Nahkampf zu erschießen. Auch ist es auf Basis dieser Ergebnisse nicht überraschend, dass viele - nach dem zweiten Weltkrieg - angeklagte SS-Offiziere vor Gericht sagten: „Ich habe nur Befehle befolgt!“.

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